Anfallsleiden

Fragen & Antworten zum Thema

Epilepsie und andere Anfallsleiden sind in der modernen Zeit ein äußerst unerwünschtes Tabuthema. Das ist für Neurologen einerseits verständlich, weil jeder Anfall mit sehr viel Peinlichkeit verknüpft ist, anderseits aber auch erstaunlich, weil wir Ärzte zahlreiche Behandlungsmöglichkeiten kennen. Dazu ist aber eine sehr genaue und umfangreiche Erfassung der Vorgeschichte erforderlich.

Besonders Kindern die früher entweder durch Anfälle oder durch Medikamente in ihrer Entwicklung stark behindert waren, kann man jetzt gut helfen. Aber auch für den erwachsenen Anfallskranken ergeben sich immer wieder Fragen. Sicherlich ist es durch die moderne medikamentöse Einstellung möglich, die Anfallsfrequenz zu senken und damit ein in fast allen Bereichen normales Leben zu ermöglichen. Aber wie ist es mit dem Autofahren? Wann dürfen die Medikamente abgesetzt werden. Was macht eine Epileptikerin, die schwanger ist oder ein Kind möchte?

Stigma oder heilige Krankheit

„Morbus Sacer“ – die heilige Krankheit – hieß die Epilepsie auch im medizinischen Sprachgebrauch noch bis vor wenigen Jahrzehnten. In den Anfällen, die manchmal mit auffälligen Bewegungsmustern, manchmal mit Halluzinationen beginnen, sah man in früheren Jahrhunderten eine Kontaktaufnahme mit einer anderen Welt oder mit den Göttern. Gaius Iulius Caesar litt an dieser Krankheit und von vielen Heiligen der christlichen Welt werden Anfallssymptome berichtet. Das führt uns gleich zwei Dinge vor Augen:

  1. Epilepsie ist eine sehr häufige und sehr lange bekannte Krankheit,
  2. Epilepsie an sich ist weder tödlich noch führt sie zu einer Beeinträchtigung der Intelligenz.
  3. Epilepsie kann, muss aber nicht die Lebensqualität bzw. Arbeitsfähigkeit beeinflussen.

In der modernen, nüchternen Arbeitswelt allerdings sieht die Sache schon etwas anders aus. Für bestimmte Arbeiten ist ein Epileptiker nicht geeignet, z.B. Arbeit mit gefährlichen Maschinen (Kran) oder Kraftfahrzeugen, direkt am oder im Wasser oder in größeren Höhen, auf Leitern etc. Daraus ergeben sich Vorurteile und Einschränkungen in der „Verwendbarkeit“, sodaß ein Anfallskranker oft nur schwer einen Job findet und unter dem Vorwand der Krankheit leicht gekündigt wird. Tatsächlich sind oft irrationale Ängste der Mitarbeiter oder Vorgesetzten viel eher für diese Restriktionen ausschlaggebend als die tatsächliche Gefahr, die durch einen Anfall entsteht.

Wie es Ihnen mit dieser Krankheit geht und welche Ihre Möglichkeiten sind, wie sie Ihre Leben gut in den Griff bekommen und die wirkliche Lebens-Qualität haben, ist eine Sache des Wissens über die Krankheit und ihre Gesetzmäßigkeiten. Dieses Wissen schafft Sicherheit.

Chaos und Ordnung

Wie entsteht ein epileptischer Anfall? Was löst ihn aus, was verhindert ihn?

Lange Zeit war das Phänomen eines Anfallgeschehens für die medizinische Welt unbegreiflich. Erst der chaostheoretische Zugang in der Hirnforschung ermöglicht einen flüchtigen Einblick: Drei Milliarden Ganglienzellen repräsentieren die organische Grundlage all unserer Fähigkeiten und Handlungen, unseres Gedächtnisses, kurz unserer Persönlichkeit. Sie tun dies indem sie als komplexes Netzwerk verbunden sind und ständig miteinander kommunizieren. Bewusstsein, Wachsein, etwas tun, einen Gedanken fassen, ein Ziel verfolgen das sind Funktionen die niemals von jeder einzelnen Zelle des Gehirns zugleich durchgeführt werden, sondern einem gewissen Rhythmus einer Abfolge von Erregung des einen und Blockierung des anderen Teiles des Gehirns folgen. Von außen gesehen entspricht die Fülle von gleichzeitigen Aktivitäten einem Chaos, vergleichbar mit einer Blumenwiese: Tausende Blumen blühen von außen friedlich – aus der Nähe gesehen herrscht wildes Durcheinander. Tausende Käfer, Fliegen und Bienen sind beschäftigt, jedes mit seiner Aufgabe. Wenn eine Aktivität nach außen sichtbar ist, dann die Wellen die der Wind wirft, der über die Wiese streicht. Ein epileptischer Anfall bringt nun für einige Sekunden Ordnung in dieses Chaos, wie ein heftiger Gewittersturm. Alle Zellen synchronisieren sich, wie sich im Sturm auch alle Halme einer Wiese in dieselbe Richtung verbiegen. Die Tiere verziehen sich in die Tiefe: Die Ganglienzellen stellen vorübergehend alle Tätigkeiten ein. Aber wie auch das Leben auf der Wiese gleich wieder beginnt, wenn das Gewitter vorübergeht, so beginnt auch im Gehirn wieder alles seinen normalen Verlauf zunehmen.

Die Gefahr eines Anfalls liegt also mehr in den Folgen der Bewusstlosigkeit, als im Anfall selbst. Der Anfallskranke selbst weiß nichts darüber, aber derjenige, der den Anfall beobachtet und nicht über den Ablauf informiert ist reagiert manchmal panisch. Dies ist ein weiterer Grund für die Ablehnung der Anfallskranken.

Jeder 10. ist gefährdet

Epileptische Anfälle sind so häufig, dass jeder zehnte Mensch irgendwann in seinem Leben eine Anfall bekommt. Natürlich ist ein einmaliges Anfallsgeschehen noch nicht eine „Epilepsie“ sollte aber abgeklärt werden. Kinder haben meist andere Anfallstypen, als Erwachsene. Menschen, die einen Schlaganfall, eine Kopfverletzung oder -operation hatten, haben andere Anfälle als Alkoholiker, deren Gehirn diffus geschädigt ist. Die Epilepsie für die die Ursache nicht bekannt ist wird „genuin“ genannt und ist relativ häufig. Anfälle beginnen oft im Kindesalter und können, bei fehlender Einstellung eine Entwicklungsverzögerung bedingen. Früher war allerdings durch die Medikamente und die Ausgrenzung von Epilepsiekindern aus Schule und sozialem Gefüge ebenfalls die Entwicklung beeinträchtigt.

Moderne Therapie

Die Behandlung hat sich in den letzten Jahren grundlegend geändert. Mit den derzeit gängigen Antikonvulsiva (Medikamente gegen Anfälle) ist es meist möglich, Epilepsiepatienten, besonders Kinder, so gut einzustellen, dass sie statt mehrerer (bis hundert) Anfälle pro Tag nur noch wenige, vielleicht einen oder zwei im Jahr haben. Dadurch sinkt das Risiko einer Entwicklungs- oder Lernstörung. Dennoch sind viele Probleme zu bewältigen:

Soziale Ausgrenzung

aufgrund der (an sich realen) Gefährdung durch die Bewusstlosigkeit einerseits und um den Zuschauern Schrecken und dem Kind die Blamage zu ersparen andrerseits neigen Eltern von Epilepsiekindern dazu, diese nicht mit anderen spielen zu lassen. Unter dieser Ausgrenzung leidet der Epileptiker sein ganzes Leben. Es beeinflusst seine Persönlichkeitsentwicklung. Die Loslösung von den Eltern, der Aufbau eines tragfähigen Selbstbewusstseins sind stark beeinträchtigt.

Autofahren

Es wird immer wieder gefordert: Epileptiker, sollen nicht Autofahren dürfen. Andrerseits ist das Risiko für einen Anfall bei gut eingestellten Anfallspatienten nicht größer als bei anderen Menschen. Allerdings, wer entscheidet, wann ein Epileptiker gut eingestellt ist? Wir wissen von vielen Faktoren, die die Anfallsschwelle senken. Es sind dies Dinge die nicht unter ärztlicher Kontrolle stehen. Wer übernimmt das Risiko, wenn doch etwas passiert? Meist fährt der Epileptiker ohne weiter Rücksprache mit seinem Arzt darüber zu halten. Keine befriedigende Situation, aber tägliche Realität.

Arbeit

Meist geht es bis zum ersten Anfall am Arbeitsplatz gut – dann erfolgt oft die Kündigung. Als Ursache wird selten die Krankheit angegeben, sondern es werden andere Gründe gesucht. Manche Epileptiker erhalten auch eine Invaliditätseinstufung und haben Anspruch auf einen Behindertenarbeitsplatz: nicht sehr aufbauend, wenn man das Gefühl hat die Behinderung befindet sich eher in der Einstellung der Arbeitskollegen bzw. Vorgesetzten.

Nachtdienste

Schlafentzug löst – auch bei gut eingestellten Epileptikern – mitunter einen Anfall aus. Berufe mit Nachtdiensten sind also nur dann für diese Menschen möglich, wenn sie nachher rasch zu ausgiebigen Schlaf kommen. Bei unvermeidlichen Riesenanstrengungen (Nonstop-Flüge, Jetlag, Krisensituationen, Katastrophen) kann durch Schlafunterstützung und Dosisanpassung das Risiko verringert werden.

Schwangerschaft

Epileptikerinnen mit Kinderwunsch hatten früher keine leichte Entscheidung, denn das Risiko einer Belastung des ungeborenen Kindes durch Krankheit und Medikament war groß.  Seit mehreren Jahren gibt es – ausreichend wissenschaftlich belegt – Medikamente die für das Kind ungefährlich sind.  Der Neurologe kann in dieser Hinsicht beraten und falls erforderlich die Therapie anpassen.

Alkohol

ist stark anfallsfördernd und muss unbedingt gemieden werden. Die meisten Antikonvulsiva zeigen mit Alkohol eine Verstärkung der müdemachenden  Nebenwirkung. Die Verkehrstauglichkeit ist stark beeinträchtigt. Alkoholismus ist der häufigste Grund für Epilepsie die im Erwachsenenalter beginnt. Hier ist der Anfall Hinweis auf die Zerstörung des Gehirns.

Tabletteneinnahme

Die Mittel gegen Epilepsie müssen extrem regelmäßig und zuverlässig genommen werden. Kleine Abweichungen vom Tagesrhythmus können zu Anfällen führen. Bei Magen-Darmerkrankungen mit tagelangen Durchfall, Erbrechen aber auch bei längeren fieberhaften Infekten (z.B. COVID) sollte ein Arzt aufgesucht werden um zu besprechen wie mit der Medikamenteneinnahme umzugehen ist, damit der Spiegel im sicheren Bereich bleiben kann.

Psychische Faktoren

Es kommt gelegentlich vor, dass Aufregung, Freude, Stress und andere Faktoren sich auf die Anfallshäufigkeit auswirken oder Anfälle auslösen. Sicherlich sind aber viele Epileptiker in einer seelischen Situation, die durch Psychotherapie wesentlich verbessert werden könnte.

An dieser Stelle möchte ich nochmals betonen, dass es sehr selten Grund gibt Epileptiker aus dem beruflichen und sozialen Leben auszuschließen. Dies sollte vor allem von den Angehörigen bedacht werden. Die vernünftige Langzeitbehandlung durch den Neurologen und die modernen Medikamente können viele Schwierigkeiten verhindern und die Integration gewährleisten.

Erste Hilfe bei Anfällen?

  • Ruhe bewahren
  • Bewusstlosen aus Gefahrensituation bergen
  • Seitenlage
  • Falls erbrochen wurde, Atemwege freimachen
  • Angehörige, bzw. Arzt verständigen wenn Anfälle bisher nicht bekannt, Rettung rufen
  • Anfallskranken während des Anfalls und danach in Ruhe lassen, aber gefährliche Situationen vermeiden (Seitenlage, Decke…)

Unbedingt unterlassen!

Glieder festhalten oder die verkrampften Hände öffnen.
Kiefer öffnen oder gewaltsam Gegenstände (Keil) zwischen die Zähne zu schieben, um Wangen- oder Zungenbiss zu verhindern (Zähne können ausbrechen)
„Wiederbelebungsversuche“
Versuchen Sie nicht, die Person in der Nachschlafphase zu wecken
keine voreiligen Schlüsse oder Anschuldigungen (Alkohol…)

Therapie: die Einstellungsphase

Für die meisten Betroffenen bereitet die Einstellung bis zur Anfallsfreiheit keine besonderen Probleme. Natürlich sind die Medikamente am Anfang gewöhnungsbedürftig, aber die Gewissheit nachher voll funktionsfähig zu sein, motiviert, Müdigkeit, Schwindel und Appetitstörungen in Kauf zu nehmen. Meist ist bereits nach drei bis vier Wochen nichts mehr von der Anfangssymptomatik zu merken.
Dennoch – diese Phase kann Probleme machen: häufige Kontrollen beim und eine gute Begleitung durch den Arzt können eine große Hilfe sein.
Mitunter kann es auch sinnvoll sein, in der Einstellungsphase Spezialisten und eine neurologische stationäre Therapie auf zu suchen. Hier kann ich ebenfalls Hilfestellung leisten und die entsprechende Weichen stellen.

Die Erhaltungsphase

In der Zeit in der die Medikation regelmäßig und stabil eingenommen wird ist Anfallsfreiheit der normale Zustand. Allerdings ist auch für viele Betroffene noch so manche Frage offen, auch hier hilft der Neurologe. Zusätzlich ist es erforderlich regelmäßige Blut- und EEG-Kontrollen durchzuführen. Mitunter sind Dosisanpassungen und kleinere Veränderungen in der Therapie, entsprechend dem zusätzlichen heilsamen Potential der Medikamente möglich. Das kann nur ein Arzt durchführen, der lange Erfahrung mit den Epilepsiemedikamenten und allen ihren Wirkungen hat.

Beendigung der Therapie

Nach einigen Jahren Anfallsfreiheit wird in bestimmten Fällen darüber nachgedacht, die antiepileptische Therapie zu beenden. Ob man dafür in Frage kommt und wie das vor sich gehen soll, ist von Fall zu Fall unterschiedlich und sollte nur durch den erfahrenen Arzt angeordnet werden. Gerade in dieser Phase ist die Begleitung und Kontrolle eine wichtige Hilfe.

Ich lade Sie als Betroffene oder als Angehörige ein über Epilepsie mit mir zu sprechen. Vielleicht ergeben sich Veränderungen, die eine Verbesserung Ihrer Lebensqualität mit sich bringen.

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